Leise Töne ganz laut
Am Abend des 29. Februar feierte das von der der Theater AG des Peter-Paul-Rubens-Gymnasiums selbst verfasste Stück „Kopflos“ Premiere, welches in einer Psychiatrie spielt, in der diverse Individuen einer dubiosen Behandlung preisgegeben sind. Unter der Leitung des ehrgeizigen, geradezu manisch bornierten Oberarztes Storck (Lilly Karthaus) sollen die Insassen einer gesellschaftlichen Norm zugeführt werden. Zur Seite stehen Storck die Psychologin Frau Schmidt (Franziska Rims), die Stationsschwester Brunhilde (Antonia Sokolis) sowie ein geheimnisvolles Serum, das den „Kranken“ in regelmäßigen Abständen verabreicht wird.
Die Gründe für die Anwesenheit in der Anstalt sind vielerlei; sie werden zum Teil angedeutet, zum Teil im Verlaufe des Stücks in den Vordergrund gerückt. Da ist Kitty (Ronja Zurnieden), die, ihrem Spitznamen alle Ehre machend, wie ein schnurrendes Kätzchen umhertappt, um möglichst viel Zuwendung und Hingabe ihrer weitestgehend selbstzentrierten Leidensgenossinnen einzufangen. Die schizophrene Angelika (Ida Mittendorf) lebt ebenso wie Kitty in ihrer eigenen Welt, glaubt die Kaiserin von China zu sein und deutet die negativen Machenschaften der Anstaltsleitung eher als Unterstützung und Hilfe. Als Neuankömmlinge im Institut müssen sich die Schwestern Flora (Anna Ghazi) und Lena (Hannah Schwiderke) einem strengen Aufnahmeprozess unterziehen. Storck lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wer Herr im Hause ist und wer die beiden Mädchen zurück auf den wahren Weg bringen wird. Was ihm in seinem Wahn entgeht: Die beiden täuschen ihre Erkrankung nur vor, in Wahrheit sind sie auf der Suche nach ihrer verschollenen Mutter, die sie richtigerweise hinter den Anstaltsmauern vermuten. Dies ist Trude (Angy Hassan), die sich ihrer Existenz durch dauerndes Singen mehr oder weniger sinniger Texte versichert. Auch die alternde Frau Lorbeer (Susanna Mengel) ist Patientin der Anstalt, deren schwindender Geist sie ihre Tochter nicht erkennen lässt und die in dunklen Wahnvorstellungen versunken, den Untergang der Welt aus vollem Hals über die Bühne schreit. Alle wirken vor lauter Kopflastigkeit kopflos.
Mehr und mehr ins Zentrum des Geschehens rückt Kim (Lina Harnisch), deren Liebe zu ihrer Mitinsassin Waldtraut (Maja Roth) ein neues Narrativ eröffnet: Grund ihrer Anwesenheit in der Klinik ist ihre von der Anstaltsleitung als pervers dargestellte sexuelle Orientierung. Alle Versuche der Psychologin, Kim ihre Homosexualität auszureden, alle Tiraden Storcks, der ein an nationalsozialistische Familien- und Fortpflanzungsideale anlehnendes Postulat in den Saal und über die wenig kleinmütige Kim hinweg schreit, scheitern.
Im Verlauf der Handlung werden Lena und Flora fündig: Es gelingt ihnen, die in nahezu vollkommener geistiger Isolation weilende Trude davon zu überzeugen, dass sie Töchter hat, die nun vor ihr stehen. So wenig man über das frühe Schicksal der Frau und ihrer Töchter erfährt, so dringlicher tritt die Ahnung ein, dass es in der Anstalt, die immer mehr zum Gefängnis Schuldloser wird, um andres geht, als Seele und Geist zu „heilen“. Wird dem Trio die Flucht gelingen?
Immer wieder lässt Storck sein Serum verabreichen, das wie „Soma“ in Brave New World die Empfänger in einen Glückszustand versetzt – Kitty streckt behaglich maunzend alle Viere von sich – und somit in unheilvolle Abhängigkeit zum Verabreicher. Und Storck hegt hinsichtlich des Serums Hintergedanken.
Das Stück problematisiert das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht nur durch Text und Spiel. Bühnengestaltung, Tänze und Choreographien kontrastieren mit der Einzelexzentrik. Treten die Charaktere in ihren Auftritten als an/in ihrer eigenen Individualität Gescheiterte bzw. Nichtanerkannte hervor, so symbolisiert das einem monumentalen Strichcode ähnelnde Gebilde aus Trennwänden und Stühlen im Bühnenhintergrund, in die sich die Charaktere nach ihren Worten wie in eine Legebatterie flüchten, strenge Normierung und Erfassung.
In einem Kettenvortrag wird anaphorisch der eigene Grad der „Verrücktheit“ ausgedrückt. Schließlich die aufwendigen Tänze, die aussagestark die Magie und Kraft des geordneten, gezähmten Kollektivs, in dem sich das Individuum gestaltend erfüllt, auf die Bühne bringen.
Eine bessere Welt wird vorgetanzt. Die Anstalt erreicht diese nicht mehr. Storck entpuppt sich als wahnwitziger Todesengel, der sein Serum in Richtung Phenol weiter entwickelt, das er seinen an Zahl zunehmenden Gegnern kurzerhand ins Herz spritzt. Auch die gutherzige Brunhilde, die bis kurz vor Schluss in ihren Birkenstocks daran glaubt, der guten Sache zu dienen, erkennt die diabolischen Absichten des Doktors zu spät und muss ihre Abwendung von Storck mit dem Tod bezahlen, nachdem sie zuvor noch einigen die Flucht ermöglicht hat. Ebenso ergeht es Waldtraut. Storck konnte Kim nicht brechen, aber ihr ihre Freundin nehmen. Über seinem wahnwitzigem Michael Jackson „Thriller“ Lachen vergehen die finalen Lichter, der Vorhang fällt nach einem Schlusspostulat aller Beteiligten. Die Forderung nach einer Welt, in der man frei von Ausgrenzung, Hass und Homophobie leben kann, durchzieht den Appell wie ein roter Faden.
Eine beachtliche schauspielerische Leistung aller Beteiligten führte durch ein anspruchsvolles Stück mit schwerer Thematik. Gerne hätte man noch mehr über die Vergangenheit einzelner Charaktere erfahren. Die dem Theater zuzustehende eindimensionale Zuspitzung legitimiert, dass die Rollen von gut und böse einleuchtend verteilt sind, die Charaktere trotz aller angedeuteten Komplexität mit Ausnahme von Brunhilde flach sind, also im Sinne der Literaturtheorie keine Wandlung bzw. Progress im Stück vollziehen. Storck ist trotz aller schauspielerischen Vehemenz von Anfang an als Herrscher mit sadistischen Neigungen auszumachen, dem keiner der Zuschauer sein Kind überantworten würde. Der Kontrast vom einengenden, „bösen“ sozialen Überbau, der das aufstrebende, „gute“ Individuum knechtet, foltert und bricht – Brecht hätte seine Freude gehabt – ist recht brüsk, auch weil der Handlungsort dies impliziert.
Die oft recht leise geführten Dialoge und Monologe hingegen verstärken die Atmosphäre des Erdrückenden, des Unselbstbewussten unter den Patienten, kristallisierten die laut parlierenden Kim und Storck als Antipoden eines Kampfes zwischen Himmel und Hölle hervor, und ließen darüber hinaus die Zuschauer näher an die Bühne rücken.
Abschließend ein aufrichtiger Dank an alle Schauspielerinnen und Dramatiker, an Frau Trauth für die Einstudierung der Tänze, an Frau Siebel für die Regie, an Luis Ernst und Fynn Pfeifer als domini lucis!
Text: Martin Reinschmidt